M. Stecher-Hansen (Hrsg.): Nordic War Stories

Cover
Titel
Nordic War Stories. World War II as History, Fiction, Media, and Memory


Herausgeber
Stecher-Hansen, Marianne
Reihe
Worlds of Memory (7)
Erschienen
New York 2021: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XV, 346 S., 20 Abb.
Preis
$ 145.00; £ 107.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Moll, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Die Konjunktur von erinnerungskulturellen Studien hält ungebrochen an. Ebenso unverändert liegt ihr Schwerpunkt auf dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise dem Holocaust. Weniger zahlreich sind Arbeiten, die zwei oder mehrere Länder betreffend ihrer Memorialkultur vergleichend in den Blick nehmen. Zu dieser raren Kategorie zählt dieser von Marianne Stecher-Hansen sorgfältig edierte Sammelband, der sich den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Nordeuropa (Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden) widmet.

Wie die Herausgeberin in ihrer instruktiven Einleitung hervorhebt, ist dieser Vergleich besonders lohnend, da sich die Kriegserfahrungen und -erinnerungen dieser fünf Staaten grundlegend unterschieden beziehungsweise bis heute unterscheiden: Dänemark und Norwegen wurden am 9. April 1940 von deutschen Truppen besetzt, das formal noch zu Dänemark gehörende Island erlebte im Mai 1940 eine britische, ein Jahr darauf eine amerikanische Besatzung und konnte 1944 seine Unabhängigkeit vom noch immer okkupierten Dänemark erklären, Schwedens Neutralität blieb den ganzen Krieg hindurch unangetastet und Finnland war Ende 1939/Anfang 1940 in den finnisch-sowjetischen Winterkrieg verwickelt, nahm ab Juni 1941 als Verbündeter Deutschlands am Feldzug gegen die Sowjetunion teil, scherte im Herbst 1944 aus dieser Allianz aus und war daher gezwungen, die im Land stehenden deutschen Truppen in Richtung Norwegen zurückzudrängen.

Ebenso divergierend waren die Erfahrungen mit dem Holocaust, wenngleich es in allen fünf Staaten vor 1939 nur sehr kleine jüdische Gemeinden gab: Während die Juden Norwegens mit wenigen Ausnahmen in die deutschen Vernichtungslager deportiert wurden und dort umkamen, konnte sich der Großteil der dänischen Juden im Herbst 1943 nach Schweden in Sicherheit bringen. Schwedens jüdische Bevölkerung blieb ebenso unangetastet wie jene Islands und Finnlands.

Der Band ist in vier thematische Blöcke gegliedert, deren Überschriften sich großteils mit den im Untertitel angeführten Begriffen decken. Abschnitt I „War Historiography“ fasst die Grundlinien der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit den Erfahrungen der Länder im Zweiten Weltkrieg zusammen, wobei nationalgeschichtliche Besonderheiten sowie Wandlungen des Geschichtsbildes seit 1945 (sofern es solche gab) im Zentrum stehen. Für Finnland ist dies laut Juhana H. Aunesluoma der bis heute nachwirkende Eindruck, mit der Beteiligung am deutschen Russlandfeldzug einen „guten Krieg“ geführt zu haben. Dänemark, so Sofie Lene Bak, fügte sich widerstandslos in die deutsche Okkupation und betrieb bis Spätsommer 1943 eine vielfach als Staatskollaboration bezeichnete Politik, die wegen ihrer weitgehenden Zugeständnisse erst sehr spät auf Kritik stieß und bis heute als Ausdruck von Realpolitik ihre Verteidiger findet. Ähnlich verhält es sich mit Schweden, das laut John Gilmour ebenfalls erst nach der sichtbaren Kriegswende 1943 seine Konzessionspolitik gegenüber Deutschland schrittweise zurücknahm und sich stärker in der Judenrettung engagierte. Das von Tom Kristiansen behandelte Norwegen leistete den deutschen Invasoren im Frühjahr 1940 zunächst heftigen Widerstand, musste jedoch kapitulieren. Zwar setzten König und Regierung den Kampf im britischen Exil fort, doch übernahm in Norwegen die Marionettenregierung Vidkun Quislings unter deutscher Aufsicht die Macht. Widerlegt ist der lange auch von der norwegischen Historiographie propagierte Mythos, rund 95% der Bevölkerung hätten sich dem Widerstand gegen die Okkupanten und deren Handlanger angeschlossen; mittlerweile wird vermehrt gefragt, welche Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft die Besatzung nicht nur hinnahmen, sondern vom massiven deutschen Ausbau der Infrastruktur (Eisenbahnen, Straßen, Flugplätze, Häfen) sogar profitierten. Guðmundur Hálfdanarson fasst die bereits erwähnten Besonderheiten der Situation in Island konzis zusammen.

Abgesehen von Island musste sich die Historiographie in den übrigen Staaten zur meist erst Jahrzehnte nach Kriegsende auftauchenden Frage äußern, ob das damalige Regierungshandeln aus der Perspektive der Nachkommenden moralisch gerechtfertigt oder zumindest verständlich ist. Alle vier Autoren schildern die entsprechenden Kontroversen und nehmen hierzu prononciert Stellung, am deutlichsten der Brite John Gilmour für Schweden. Er wirft den Kritikern moralistische Positionen vor und erinnert daran, dass die schwedischen Rettungsmaßnahmen auf eine gewisse Duldung der deutschen Stellen angewiesen waren. Eine rein moralisch begründete, NS-Deutschland öffentlich verdammende Politik wäre „certainly ineffective“ gewesen. „These tragic and desperate events defy simplistic moral judgments, which frequently ignore the context and circumstances in which decisions were made by men and women negotiating with genocidal criminals and risking their lives on behalf of them. Little did they know that decades later, they had also risked their moral reputations.“ (S. 90) Diese Einsicht habe sich im Lande aber immer weniger durchsetzen können: „Sweden's wartime policy has largely been rejected by Swedes today, and recent immigration policies can be seen as an attempt to atone for Sweden's wartime conduct.“ (S. 94)

Der zweite Themenblock ist mit „War Literature: Archive“ überschrieben. Er behandelt drei wegen und während des Krieges entstandene Texte, die ungeachtet der teilweisen Prominenz ihrer Schöpferinnen nicht zum literarischen Kanon zählen. Die Beiträge schildern die Entstehungsumstände, Inhalte und Bedeutungen von Karin Boyes 1938 verfasstem Tagebuch ihrer Reise von Berlin nach Griechenland (ein Konnex mit dem Weltkrieg ist hier nicht erkennbar), ferner Isak Dinesens (besser bekannt als Tanja Blixen, die Autorin von „Jenseits von Afrika“) im Frühling 1940 in Deutschland entstandene „Briefe aus einem Land im Krieg“ sowie „Return to the Future“, ein 1942 in den USA im Rahmen alliierter Kriegspropaganda verfasster autobiographischer Text der norwegischen Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset über ihre Flucht aus Norwegen 1940. Wie Christine Hamm zu Undsets Werk anmerkt: Die tiefe emotionale Verstrickung der Autorin „tends to obfuscate the narrative“ (S. 148). Auch die Verfasserinnen der zwei anderen Beiträge, Amanda Doxtater und die Herausgeberin, lassen erkennen, dass es sich bei den besprochenen Werken um damals wie heute randständige Literatur handelt, die aus guten Gründen nie in nationale Erinnerungskanons Eingang fand.

Das Gegenteil trifft auf die in Abschnitt III „War Literature: Canon“ vorgestellten Werke zu. Es handelt sich um Klassiker, die aufgrund ihrer vielfachen Publikation und Inspirationskraft bis heute als Teil der kulturellen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gelten. Diese großteils zwischen 1947 und 1971 entstandenen Texte „engage ethical dilemmas and existentialist perspectives and [...] often come to function as postwar apologia“ (S. 151). Auch hier werden die Schöpfer, ihre Werke, deren Kontexte und Inhalte sowie die Rezeption bis in die Gegenwart abgehandelt. Mark Mussari widmet sich dem von existenzialistischen Ängsten geprägten Werk des dänischen Schriftstellers Hans Christian Branner, Dean Krouk analysiert einen Klassiker der norwegischen Besatzungsliteratur, Sigurd Hoels „Møte ved Milepelen“ (1947; deutsch 1970: Begegnung am Meilenstein), Julia Pajunen den mehrfach verfilmten Roman „Der unbekannte Soldat“ von Väinö Linna, ein besonders interessantes Opus, dessen Rezeption die Intention seines Autors als eines Anti-Kriegs-Romans mehr oder weniger ins Gegenteil gewendet hat („patriotic national discourse“, S. 186), ist er doch zu einem Paradigma des Schicksals der finnischen Nation geworden (S. 196f.). Ein eher peripheres Thema behandelt Jan Krogh Nielsen mit Per Olov Enquists Dokuroman „Die Legionäre“ (zuerst 1968) über die Auslieferung von rund 150 baltischen Soldaten der Waffen-SS, die sich bei Kriegsende nach Schweden geflüchtet hatten, an die Sowjetunion. Das Werk „North of War“ von Indriði G. Þorsteinsson, dessen sich Daisy Neijmann annimmt, schildert die Transformation Islands unter alliierter Besetzung ab 1940.

Der vierte und letzte Abschnitt, „War Cinema: Remembering and Forgetting“, dürfte für jene Leser, die der skandinavischen Sprachen nicht mächtig sind, von besonderem Interesse sein, da nur wenige der behandelten Filme in deutscher oder englischer Synchronisation verfügbar sind. Erik Hedling bietet einen Überblick über die 1973 erstausgestrahlte siebenteilige Dokuserie „Irgendwo in Schweden“, die das Alltagsleben während des Krieges, insbesondere jedoch Schwedens Anstrengungen zur Aufrechterhaltung seiner Neutralität (aus heutiger Sicht) verklärend schildert. Pétur Valsson stellt drei isländische Nachkriegsfilme vor, die sich dem Verhältnis der Einheimischen (insbesondere der Frauen) zu den tausenden amerikanischen Soldaten widmen; dieses wurde im Lauf der Zeit immer positiver porträtiert. Liina-Ly Roos stellt den Film „Mother of Mine“ vor, in dessen Zentrum die traumatischen Erlebnisse eines während des Krieges von Finnland nach Schweden evakuierten Jungen und dessen lebenslange Auseinandersetzung mit der Trennung von seiner Mutter stehen. Marianne Stecher-Hansen stellt die beiden erst 2015 in die Kinos gekommenen dänischen Filme „9. April“ und „Land of Mine“ vor; sie verklammern den ersten Tag der deutschen Okkupation, den 9. April 1940, mit den nach Kriegsende von gefangenen Wehrmachtssoldaten durchgeführten Räumungen der von der Wehrmacht an der dänischen Westküste verlegten Landminen, ein Unternehmen, das zahlreiche Todesopfer forderte und bis heute als völkerrechtlich umstritten gilt. Im Anschluss gibt Gunnar Iversen einen Überblick über die zahlreichen Filme, die zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Gegenwart entstanden und dem Genre des norwegischen „Okkupationsdramas“ zuzurechnen sind. John Sundholm analysiert kenntnisreich die Wandlungen, die Linnas „Der unbekannte Soldat“ in finnischen Verfilmungen erfahren hat; erstaunlicherweise sei es eher zu einer Rückkehr zum Bild von Finnlands „gutem Krieg“ gekommen, als zu einer kritischen Hinterfragung. Insgesamt wird leider zu wenig auf die Frage eingegangen, inwieweit die Narrative und Darstellungsformen auch von der Erwägung der Produzenten bestimmt waren, ihre Streifen für ein internationales Publikum tauglich zu machen.

Marianne Stecher-Hansens dreiseitiger Epilog fasst die wesentlichen Befunde dieses ansprechend bebilderten, durch ein Personen- und Sachregister erschlossenen Bandes zusammen und hebt einige seiner Spezifika hervor: Die Beitragenden konzentrierten sich überwiegend auf herausragende, repräsentative Werke, was zu Lasten eines Gesamtüberblicks der künstlerischen Produktion in den fünf Ländern gehen musste. Es gebe ferner so gut wie keine Historiographie und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Kriegserleben der indigenen Bevölkerung der Inuit und Samen. Dessen ungeachtet leistet der Band einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dessen, wie vor allem die Massenmedien die (nationalstaatliche) Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in einer meist abseits des Interesses liegenden Region Europas geprägt haben.